Diskrepanz zwischen Nachfolgenot und Selbständigkeitswunsch
Berlin, 25.09.2024 | Lesezeit: 5 Min.
Die Kampagne „Wir sind für Sie nah“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) macht eindringlich auf die drohende Notlage aufmerksam. Die Zahlen sind dramatisch: Über 37 % der Hausärzte*innen sind über 60 Jahre alt und werden in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen.1 Vor allem in ländlichen Gebieten und in den westdeutschen Bundesländern wird dies eine große Lücke in die ambulante Versorgung reißen.1 Was wird nun mit den Praxen, die dringend eine*n Nachfolger*in brauchen? Was hält die neue Generation der Ärzte*innen davon ab, sich selbständig zu machen?
Gibt es einfach zu wenig Mediziner*innen in Deutschland? Betrachtet man die Statistik, zeigt diese, dass sich die Zahl der berufstätigen Ärzte*innen in Deutschland in den vergangenen 60 Jahren mehr als vervierfacht hat – auch im Verhältnis zur Bevölkerung.2 Trotzdem herrscht bereits ein Ärzte*innenmangel, der sich in den kommenden Jahren zuspitzen wird. Ein starkes Stadt-Land-Gefälle, der demographische Wandel und die Reduzierung der Wochenarbeitszeit sind nur einige Gründe für diese fatale Entwicklung.2 Eine bundesweite Umfrage unter Medizinstudierenden zeigte zusätzlich, dass sich nur 27 % sicher sind, später in der Niederlassung arbeiten zu wollen.3
Abschreckende Landarztidylle und zu viel Papierkram?
Raus aus der Anonymität der Großstadt, rein in eine Gemeinschaft, in der vermutlich jeder jeden kennt, mit langsamem Internet und überschaubarem Freizeitangebot – es kann viele Faktoren geben, warum eine Niederlassung in ländlichen Gebieten für junge Menschen weniger attraktiv wirkt. Darüber hinaus sorgen sich die jungen Mediziner*innen um ihre Zukunft: Wie risikobehaftet ist eine Existenzgründung und lohnt es sich finanziell?3 Vor allem die Angst vor persönlicher Haftung bei Regressen scheint dabei weit verbreitet.3 Es wird auch befürchtet, dass eine Niederlassung mehr Bürokratie als Arbeit mit Patienten*innen bedeutet. Zudem fühlen sich viele junge Mediziner*innen in ihrer Ausbildung nicht ausreichend auf die Selbstständigkeit vorbereitet.3 Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) fordert deshalb einen dringenden Wandel im Gesundheitswesen: Die Studierenden sollten strukturiert auf die Niederlassung mit allen Eventualitäten vorbereitet werden.3 Hören Sie dazu mehr im Einblick-Podcast mit Hannah Kurz von der bvmd und Dr. Roland Stahl von der KBV, die über Herausforderungen und Perspektiven der Praxisübergabe sprechen.
Welche Ursachen gibt es für den Ärztemangel?
- Fehlverteilung: Trotz großer Ärztedichte sind die Ärzte*innen in Deutschland ungleich verteilt. Viele arbeiten in Großstädten, während im ländlichen Raum ein Mangel herrscht.2
- Demografischer Wandel: In Deutschland führt der demografische Wandel zu einer alternden Bevölkerung und einem zunehmenden Bedarf an medizinischer Versorgung. Gleichzeitig gehen viele erfahrene Mediziner*innen in den Ruhestand.2
- Wochenarbeitszeit: Die gewünschte Wochenarbeitszeit nimmt über alle Altersgruppen hinweg ab. Statistisch gesehen müssen 1,2 Nachwuchsärzte*innen eine*n ausscheidende*n Arzt*Ärztin ersetzen. Die Gesamtzahl der Ärztestellen ist zwar gestiegen, der Anteil der Vollzeitkräfte ist jedoch rückläufig.2
- Ausbildung: Die begrenzten Ausbildungskapazitäten für Medizinstudierende in Deutschland verschärfen den Ärzte*innenmangel.2
- Attraktivität des Arztberufs: Lange Arbeitszeiten und mangelnde Work-Life-Balance schrecken ab. Schätzungen zufolge entscheiden sich 10-15 % der Absolventen*innen des Medizinstudiums gegen eine ärztliche Laufbahn und wählen Bereiche wie Medizinjournalismus oder die Pharmaindustrie.2
- Bürokratie: Die umfangreiche Bürokratie im Gesundheitswesen, wie Dokumentationsanforderungen und Abrechnungsverfahren, belastet die Mediziner*innen.2
Teamplayer mit Familie
Einen sehr großen Stellenwert bei der jungen Generation hat zudem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.3 Vor allem angehende Allgemeinmediziner*innen äußern diesen Wunsch für ihren zukünftigen Berufsalltag.3 Eine lange Arbeitswoche, Doppel-, Nacht- sowie Wochenendschichten: in der Klinik die harte Realität, weshalb eine Anstellung in der ambulanten Versorgung eigentlich immer beliebter wird.3
Die befragten Studierenden sehen für sich eine Niederlassung jedoch hauptsächlich in Form einer Berufsausübungsgemeinschaft (BAG), wie einer Gemeinschaftspraxis oder einem medizinischen Versorgungszentrum (MVZ).3 Nur 4-5 % der Befragten haben den Wunsch, später eine Einzelpraxis zu führen.3
Der frühe Vogel…
Die aktuelle Situation macht es Hausärzte*innen schwer, eine Nachfolge zu finden. Ist endlich eine gefunden, können weitere Probleme auftauchen. Zum Beispiel kann sich die Praxis in einem für Neuzulassungen gesperrten Planungsbereich befinden. Hier wird empfohlen, dass sich der*die betreffende*r Nachfolger*in frühzeitig auf die Warteliste für den Praxisstandort setzen lässt.7 Eine längerfristig vorzubereitende Möglichkeit die Nachfolge zu gestalten, ist das Jobsharing: Dabei teilen sich zwei Ärzte*innen derselben Fachrichtung einen Kassensitz und nutzen Räume, Geräte und Personal gemeinsam.5 Diese Variante ist vor allem bei Ärzte*innen mit Familie attraktiv, da hier in Teilzeit gearbeitet werden kann.6 Für das Jobsharing-Modell ist die Genehmigung durch den Zulassungsausschuss erforderlich.5 In der Variante Jobsharing als BAG erhält der*die Juniorpartner*in eine beschränkte Zulassung abhängig von dem*r Seniorpartner*in, dabei sind die Partner*innen gleichberechtigt.5 Nach zehn Jahren erhält der*die Nachfolger*in eine eigene, unbeschränkte Zulassung. Soll der Sitz früher abgeben werden, wird der*die Nachfolger*in bereits nach fünf Jahren bevorzugt behandelt.5 Allerdings darf der Leistungsumfang einer Jobsharing-Praxis nur um maximal 3 % ausgeweitet werden.5 In der zweiten Variante kann der*die Nachfolger*in vorerst ohne eigene Zulassung angestellt werden, um die Praxis und das Patientenklientel kennenzulernen.6 Die Vorteile für die spätere Praxisübernahme sind aber nicht vergleichbar.6
Eine Auswahl an aktuellen Maßnahmen, um dem Ärztemangel in der Niederlassung entgegenzuwirken:
- Gesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach setzt sich weiterhin für eine Erhöhung der Medizinstudienplätze ein.8
- Der aktuelle Referentenentwurf zur Neugestaltung der Approbationsordnung in der Medizin (Stand 15.06.2023) sieht mehr Pflichtpraktika in Lehrpraxen vor.9 Der derzeitige Plan soll 2027 verabschiedet werden.10
- Programme mit finanziellen Anreizen, sollen mehr Ärzte*innen für die Niederlassung auf dem Land gewinnen.11
- Zusätzlich zu den regulären Studienplätzen werden auch Landarztstudienplätze angeboten. Studierende verpflichten sich dazu, nach ihrem Abschluss zehn Jahre in einer ländlichen Praxis zu arbeiten. Die Landarztquote wird bereits in mehreren Bundesländern umgesetzt.12
- Mit der Kampagne namens "Lass dich nieder" wenden sich die KBV und die KVen gezielt an Medizinstudierende und junge Ärzte*innen, um diese für die Niederlassung zu begeistern. Seminare, Termine zum Austausch sowie diverse Online-Formate gehören zum Angebot.11
Tempora mutantur, nos et mutamur in illis
Latein für „Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“. Dies betrifft sowohl die Anforderungen an die Arbeit der Mediziner*innen als auch deren Erwartungen an den Arztberuf. Die neue Generation der Mediziner*innen wünscht sich Flexibilität, möchte die Arbeitserleichterungen der Digitalisierung nutzen und im Team arbeiten. Sie ist auch bereit, Arbeit abzugeben und befürwortet die Übertragung von bislang ärztlichen Aufgaben an entsprechend qualifiziertes Pflege- und Assistenzpersonal.3 Die Work-Life-Balance ist ein wichtiger Faktor.3 Auch wenn der Traum von der eigenen Praxis von der neuen Generation weniger geträumt wird, ist das Potential da. Denn in der Umfrage sind 43 % der befragten Medizinstudierenden unschlüssig, wie sie später arbeiten möchten und 27 % sehen sich sogar in der Praxis.3 Die Vorteile für eine Niederlassung, vor allem in einem ländlichen Gebiet, müssen den jungen Ärzten*innen nur nahegebracht werden, außerdem muss ihnen die Angst vor der Selbständigkeit genommen werden. Dies kann grundsätzlich im Austausch untereinander passieren. Denn im Zentrum steht stets die Verantwortung gegenüber den Patienten*innen, unabhängig von der Generation.
Weiterführende Informationen
Im Podcast Einblick nachgefragt: Herausforderungen und Perspektiven der Praxisübergabe im Gesundheitswesen spricht Fachjournalist und Einblick-Redakteur Christoph Nitz mit Hannah Kurz, bvmd und Dr. Roland Stahl, KBV über Praxisnachfolge und die veränderten Bedürfnisse der Generation Y und Z.
Die Kampagne „Lass dich nieder“ der KBV bietet wertvolle Informationen für junge Ärzte*innen zur Praxisgründung.
Wie kann eine Praxis erfolgreich übergeben werden? Mehr Informationen finden Sie hier.
Quellen:
- Wir sind für Sie nah.; Kampagne der Kassenärztlichen Vereinigungen (rettet-die-praxen.de) (letzter Zugriff: 24.07.2024)
- Steigende Ärztezahlen: Warum gibt es trotzdem Ärztemangel?; ÄRZTESTELLEN (aerzteblatt.de) (letzter Zugriff 23.07.24)
- Rüdiger Jacob, Johannes Kopp, Lea Schwan, Leonie Sattler: Berufsmonitoring Medizinstudierende 2022: Ergebnisse einer bundesweiten Befragung, Herausgeber: Kassenärztliche Bundesvereinigung, Stand Dezember 2023
- Senior-Kompetenz: In diesen Fachgebieten gibt es die meisten Ärztinnen und Ärzte 60+; ÄRZTESTELLEN (aerzteblatt.de)(letzter Zugriff 23.07.24)
- Kooperationen, Kassenärztliche Bundesvereinigung, (kbv.de) (letzter Zugriff 24.07.2024)
- Jobsharing in der Arztpraxis, (virchowbund.de) (letzter Zugriff: 31.07.2024)
- Petra Spielberg; Praxisabgabe: Von langer Hand planen; Dtsch Arztebl 2021; 118(13): A-686 / B-578
- Ausbau der Medizinstudienplätze: Lauterbach bittet Ärzteschaft um Unterstützung; ärzteblatt.de (Letzter Zugriff: 24.07.2024)
- Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit: Verordnung zur Neuregelung der ärztlichen Ausbildung, Stand: 15.06.2023
- Richter Kuhlmann: Ärztliche Approbationsordnung: Neuer Anlauf für überfällige Reform HDtsch Arztebl 2023; 120(20): A-906 / B-778
- Die Haus- und Fachärzte von morgen; Lass dich nieder (lass-dich-nieder.de) (letzter Zugriff: 24.07.2024)
- Landarztquote: Chancen, Bewerbung, Ablauf (medizinstudium.io) (letzter Zugriff: 24.07.2024)
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